Lernen mit Stil – aus der Sicht der Allgemeinen Pädagogik

Eckart Liebau (Würzburg, 8.4.2005) [1]

Dass der Titel übertreibt, muss nicht ausführlich betont werden. Die Allgemeine Pädagogik gibt es nicht, auch wenn es Einigkeit über einige zu ihr gehörende Themen geben mag. Konsens ließe sich – vielleicht – darüber herstellen, dass neben der Wissenschaftsheorie und der Methodologie die Bildungs- und Erziehungsphilosophie, die Historische Pädagogik, die Biographieforschung und die Pädagogische Anthropologie zu den Kernbereichen Allgemeiner Pädagogik gehören. Die folgenden Ausführungen gehen von einem an der Bourdieuschen Kultursoziologie geschulten Ansatz Pädagogischer Anthropologie aus und nehmen damit eine sehr spezifische Perspektive auf. Es geht hier im Blick auf Lernen wie auf Stil eher um eine empirisch bestandserhebende, analytische Argumentation als um eine normative. Es soll nicht dargestellt werden, wie Lernen mit Stil positiv gestaltet werden könnte (vgl. Liebau 1999), sondern vielmehr, wie man Lernen verstehen und analysieren kann, wenn man es unter der Kategorie des Stils, der Stilisierung betrachtet. Dabei müssen sich die folgenden Ausführungen auf eine Skizze beschränken; eine substantielle Durchführung des Konzepts, differenziert nach den verschiedenen Milieus, sozialen Lagen etc., ist hier nicht möglich.

1. Habitus und Lebenslage

Habitusformen sind von vornherein auf unterschiedliche Lebenslagen eingestellt; und primäre und sekundäre Sozialisation tragen dazu bei, dass die Kinder, im Durchschnitt, genau jene Habitusformen erwerben, die für ihre mit ihrer sozialen Herkunft gegebene Lebenslage passen. Denn der Erwerb des Habitus, des praktischen Sinns, ist rational für die sozial-kulturelle Lebenslage, in der die Kinder sich, dank ihrer Eltern, befinden und die bei allem Wandel, im Durchschnitt jedenfalls, nach wie vor auch ihre eigene künftige sein wird – ich verweise nur auf PISA. Das ließe sich in den anthropologischen Dimensionen Leiblichkeit, Sozialität, Kulturalität, Historizität und Subjektivität (Liebau 2004) im einzelnen zeigen und auch ausdifferenzieren; bei der Leiblichkeit ließe es sich zum Beispiel durchspielen an der Entwicklung, an der Wahrnehmung der und dem Umgang mit den Sinnen und der Sinnlichkeit, an Auge (Sehsinn) und Ohr (Hörsinn), Nase (Geruchssinn), Zunge (Geschmackssinn) und Haut (Tastsinn) – darauf kann hier freilich nur hingewiesen werden. Bei der Sozialität ließe es sich durchspielen im Blick auf Gesellungsformen und Geselligkeit, Macht und Ohnmacht, Kollektivitäts- oder Individualitätscode, bei der Kulturalität im Blick auf die Bedeutung symbolischer Praktiken und der verschiedenen Ausdrucksformen, bei der Historizität im Blick auf die Phänomene der Generations- und Milieuzugehörigkeiten im Kontext historischer Ungleichzeitigkeit, bei der Subjektivität schließlich im Blick auf Menschenbild und Selbstbild. Die Selbstinszenierungen und performativen Praktiken, die die Kinder lernen, sind bei allen individuellen Variationsmöglichkeiten erst einmal präzise abgestimmt auf die Lage, in der sie sich befinden. Sie sind umso wirksamer, als sie im Kern unbewusst sind und unbewusst bleiben. Die Idee der allezeit bewussten und rationalen Handlungssteuerung gehört zu den besonders absurden Ideen moderner Lebensführung – man würde nicht einmal ein einziges Mittagessen kochen oder einen Abwasch bewältigen können, wenn man versuchen wollte, alle Handlungen bewusst, geplant und rational zu vollziehen. Das Alltagshandeln beruht vielmehr auf einverleibter, gekonnter, in der Regel bewusstloser Routine. Entscheidend ist die Grundannahme der Passung: Habitusformen und die mit ihnen verbundenen Lebensstile, so seltsam sie erscheinen mögen, sind daher zunächst einmal unter dem Gesichtspunkt ihrer inneren Sinnhaftigkeit anzusehen und nicht unter dem Gesichtspunkt der Kritik und der Veränderung. Die übliche pädagogische Annahme allgemein wünschenswerter und ohne weiteres verallgemeinerbarer Ziele zeigt sich schon an dieser Stelle als außerordentlich kurzschlüssig. Kinder und Schüler werden nicht dadurch gleich, dass sie Kinder oder Schüler sind. Dementsprechend ist es übrigens, worauf schon Herbart hingewiesen hat, höchst ungerecht, sie gleich zu behandeln.

Der in primärer und sekundärer Sozialisation erworbene Habitus bildet die Grundlage, auf der alle folgenden Erfahrungen und Praktiken aufbauen, wie Bourdieu immer wieder betont hat. Aber er stellt kein Verhängnis dar; mit dem Anfang ist nicht alles weitere festgelegt. „Natürlich gibt es … klare Hinweise für den nachhaltigen Effekt anfänglicher Determinismen; ist es hinlänglich belegt, daß ‚soziale Herkunft’ bei Erwachsenen ‑ unter Bedingungen gleichen Bildungsgrades und gleicher sozialer Stellung ‑ einen entscheidenden Faktor für Unterschiede im Hinblick auf kulturelle Dispositionen darstellt, dass der Einfluss der frühen Sozialisation niemals ganz verschwindet ‑ und sei es, dass er sich noch in den Spuren offenbart, die die zwanghaften Versuche zur Korrektur, zur Verwischung und Unterdrückung des einstmals Erworbenen hinterlassen haben“ (Bourdieu/Schwibs 1985, S. 378). „Und dennoch handelt es sich hier um kein ‚systèm fatal’ …, d.h. um ein System, dessen Initialpunkt alles weitere determiniert“ (ebd.): Der Weg durch den sozialen Raum, den ein Mensch im Laufe seines Lebens geht, ist nicht „determiniert“ und ist auch nicht prognostizierbar. Nur Wahrscheinlichkeiten können angegeben werden.

2. Trajectoire und Lebenslauf

Den Weg durch den sozialen Raum fasst Bourdieu mit dem Begriff der „trajectoire“. Dieser Begriff soll die Abfolge der Positionen bezeichnen, die ein Mensch in seinem Lebenslauf einnimmt: Kind, Schüler, Lehrling oder Student, ggf. Soldat, berufliche Positionen in ihrer Abfolge, Rentner bzw. Pensionär; aber auch: Kind, Jugendlicher, junger Erwachsener, Ehemann/Ehefrau, Vater/Mutter, reifer Erwachsener, Großvater/Großmutter, alter Mensch; oder auch: Kind, jugendliches Mitglied im Sportverein, Aktiver bei den Erwachsenen, Mitglied des Vorstandes, passives Mitglied (und vielleicht Ehrenpräsident). Entsprechende Reihen ließen sich für kulturelle, politische oder auch religiöse Positionen aufstellen: Evangelisch wäre der klassische Verlauf dann z.B. Rituale in der Familie (Beten, Singen), Feste im Jahreslauf in Familie, Kindergarten und Kirche, Kindergottesdienst, Religionsunterricht, Konfirmandenunterricht, Jugendgruppe etc. – und das ganze begleitet durch die Rituale, in denen die wesentlichen Lebensereignisse ihre Form finden: Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung etc. (Das gibt es so heute vielleicht noch in manchen württembergischen oder fränkischen Pietistenkreisen – sonst nur noch in fragmentierten, mehr oder weniger rudimentären Resten. Evangelisches Leben in dieser klassischen Form ist heute ein kleiner, zurückgehender Lebensstil, der insbesondere in älteren kleinbürgerlichen Milieus verankert ist. Die traditionelle Aura ist da längst verloren. Es wäre eine interessante Frage, wie heute eigentlich die tatsächlichen empirischen Prozesse religiöser Sozialisation vor sich gehen; wir wissen bisher darüber sehr wenig, weil sich die Forschung immer noch viel zu sehr an konventionellen Modellen des Glaubens orientiert. Dementsprechend wenig wissen wir darüber, was Menschen wirklich glauben und wie sie zu diesem ihrem Glauben kommen.

Aber zurück zur trajectoire: Es ist also, von der frühesten Kindheit vielleicht abgesehen, immer mehr als nur eine Position, die ein Mensch einnimmt; und die trajectoire ist dementsprechend durch eine spezifische Abfolge von Positionskonfigurationen gekennzeichnet.

Mit diesem Begriff rückt die diachrone Perspektive in den Vordergrund. Jede Position erfordert spezifische Kompetenzen im Sinne von „Können“; jede ist mit spezifischen Kompetenzen im Sinne von „Befugnis“ verknüpft. Und natürlich ist das „Können“ nicht automatisch in dem in Kindheit und Jugend erworbenen Habitus enthalten, sondern es wird entweder antizipatorisch (so z.B. in der Berufsausbildung) oder auch erst in der mit der Position verbundenen Praxis (so z.B. häufig in der Politik; oder auch in der Familie: Elternschaft) erworben. Positionen sind in bestimmten sozialen Feldern instituiert; sie sind durch die aktuellen, also die synchronen, Anforderungen, wie sie aus dem jeweiligen Feld heraus (auf der Grundlage von dessen, vom individuellen Akteur relativ unabhängigen Geschichte) gestellt werden, bestimmt. Die Aufgabe des Akteurs ist es, die mit der Position verbundenen Anforderungen „kompetent“ zu erfüllen.

3. Ökonomie der Sozialisation

Mit jeder Position also, die der soziale Akteur einnimmt, entsteht eine spezifische Konfiguration von positionellen Anforderungen und Befugnissen einerseits, in der vorgängigen Lebensgeschichte erworbenen Dispositionen andererseits. Habitus und Position müssen in Übereinstimmung gebracht werden; der soziale Akteur muss ggf. lernen. Lernen muss er freilich nur in dem Maße, in dem es zu Diskrepanzen zwischen positionellen Anforderungen und vorgängig erworbenen Dispositionen kommt. Das ist lebensgeschichtlich immer dann der Fall, wenn neue Positionen zum ersten Mal eingenommen werden; wenn etwa, wie es in der Shell-Studie heißt, ein neuer „Fixpunkt“ (1981, Bd. 1, S. 133 f.) in der Lebensgeschichte erreicht wird.

Das dann notwendig werdende Lernen ist indessen alles andere als frei oder beliebig. Bourdieu legt großen Wert darauf, Kompetenz nicht nur im Sinne des „subjektiven Vermögens“ (Pfeffer 1985, S. 288) zu verstehen, sondern immer den Feldzwang mitzusehen: „Die Instituierung, die Zuweisung eines Wesens, einer Kompetenz, verleiht dem Betreffenden ein Recht, das gleichzeitig Pflicht ist, etwas zu sein … Es wird ihm damit bedeutet, was er ist und dass er sich entsprechend zu betragen hat“ (Bourdieu 1982, S. 126, zitiert nach Pfeffer 1985, S. 289). Das Lernen ist also auf die Position und die von ihr erheischte Kompetenz bezogen.

Nun kann bekanntlich nicht jeder Mensch jede beliebige Position einnehmen, auch wenn er vielleicht den Wunsch danach hat. Viele, besonders die beruflichen Positionen, sind an formelle Qualifikationsnachweise, an legitimierte Zertifikate und Titel (oder doch an legitime Erbschaften) gebunden; andere Positionen, etwa in Politik und Kultur, sind an informelle, jedoch deswegen nicht weniger strenge Kompetenznachweise (Wahl und Delegation) gebunden; eine dritte Gruppe von Positionen, in der Familie z.B., steht im Prinzip jedermann/jederfrau offen. Die Konfiguration von Position und Dispositionen folgt daher selektiven Prinzipien in horizontaler und vertikaler Dimension, oder einfacher: der Abstand zwischen positioneller Kompetenz und individueller Kompetenz darf weder formal noch inhaltlich zu groß sein. Es muss hier zu einer „Passung“ kommen.

Es liegt nun in der „Ökonomie der Sozialisation“, dass unziemliche Aspirationen in der Regel gar nicht erst zustande kommen. Da der in primärer und sekundärer Sozialisation erworbene Habitus im Durchschnitt auf die Reproduktion des elterlichen Status bzw. auf Aufstieg in die „nächsthöhere Etage“ tendiert, ist er auf die Positionen, die für den sozialen Akteur i.d.R. in Frage kommen, prinzipiell eingestellt; zwar nicht auf die Einzelheiten, die mit einer Position in ihrem spezifischen Feld verbunden sind, sehr wohl aber auf die Strukturen, die sich jeweils ähneln. Man kann daher die „Ökonomie von Lebensgeschichten“ unter der Frage betrachten, inwieweit die Positionen, die im Laufe der trajectoire durchlaufen werden, untereinander homologe Anforderungen stellen, inwieweit sie also redundante Habitusformen erfordern, oder, andersherum, inwieweit sie nicht‑redundante Habitusformen erfordern: Je höher die Redundanz, desto ökonomischer (im Sinne der Optimierung des Verhältnisses von Aufwand und Ertrag, was in Sozialisationsprozessen tendenziell gleichbedeutend mit dem Verhältnis von zeitlichem Lernaufwand und Nutzung des Lernergebnisses ist).

Ob jemand also beispielsweise antizipatorisches Lernen auf sich nimmt, hängt, nach diesem Modell, von der Relation zwischen der Wahrscheinlichkeit, dass das Lernen durch die Erreichung der angestrebten Position gekrönt werden kann, und dem dazu erforderlichen Aufwand ab. Wenn die objektiven Chancen sehr schlecht eingeschätzt werden, wird eine solche Kalkulation anders ausfallen, als wenn die objektiven Chancen als sehr gut eingeschätzt werden. Natürlich gibt es hier erhebliche Enttäuschungsgefahren; die Geschichte der Bildungsexpansion ist seit Beginn der noch immer herrschenden Überfüllungskrise auch eine Geschichte enttäuschter Erwartungen. Hier sind die Kalkulationen nicht aufgegangen. Die Entwicklungen im Bildungsfeld und in den beruflichen Feldern folgen eben jeweils „relativ autonomen“ Gesetzen; es gibt hier keine prästabilierte Harmonie.

4. Krise und Konversion

Unter sozialisationsökonomischen Gesichtspunkten ist der Erwerb nichtredundanter Habitusformen immer mit einem erheblich größeren Aufwand verbunden als eine bloße Kompetenz-Komplettierung innerhalb im Ganzen redundanter Habitusformen. Das liegt nicht nur daran, dass ggf. das Risiko des Fehlschlags sehr viel größer sein kann – das muss es in konjunkturell günstigen Zeiten, etwa zum Beginn von Mangelkrisen, nicht unbedingt sein-, sondern es liegt daran, dass der Erwerb nicht-redundanter Habitusformen mit einer Transformation der Gestalt des Individualhabitus verbunden ist. Da der Habitus ein System, eine tendenziell geschlossene Gestalt von Dispositionen darstellt, werden in dem Moment, in dem diesem System grundlegend neue Elemente zugeführt werden, alle Relationen innerhalb des Systems berührt; es muss eine neue Ordnung etabliert werden. Zwar können die alten Elemente ggf. erhalten werden- manche werden freilich auch „unterdrückt“ oder „verdrängt“-, aber sie gewinnen innerhalb des Systems der Dispositionen einen neuen relativen Ort: mit der Folge einer Konversion, die mit erheblichen Krisen für das Individuum verbunden sein kann.

Die Kosten des Erwerbs nicht-redundanter Habitusformen sind also in jedem Fall hoch; und sei es nur, dass in Rechnung gestellt wird, welche Identitätsarbeit geleistet werden muss, bis ein neues System von Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten etabliert ist. Denn Konversionen bringen den Bruch mit der Doxa der Herkunftskultur notwendigerweise mit sich. Sie sind daher im Prinzip um so leichter möglich, um so mehr der soziale Akteur auch über die Fähigkeit zur symbolischen Beherrschung der Praktiken seiner Herkunftskultur verfügt, eine Fähigkeit, die im Zusammenhang doxischer Lebensverhältnisse nicht intentional erworben werden kann, die vielmehr nur durch kulturelle Kontakte (wie sie z.B. die Schule bietet) oder durch Krisen entstehen kann: „Die Doxa bildet jenes Ensemble von Thesen, die stillschweigend und jenseits des Fragens postuliert werden und die als solche sich erst in der Retrospektive, dann, wenn sie praktisch fallengelassen wurden, zu erkennen geben. Die aus den kulturellen Kontakten oder den politischen und ökonomischen Krisen hervorgehende praktische Infragestellung der Thesen, die in einer jeweiligen Lebensform impliziert sind, weisen freilich nicht die Gestalt einer rein intellektuellen Operation auf … Denn die Krise, die das Undiskutierte zur Diskussion, das Unformulierte zu seiner Formulierung führt, hat zur Bedingung ihrer Möglichkeit die objektive Krise, die, indem sie das unmittelbare Angepasstsein der subjektiven an die objektiven Strukturen aufbricht, praktisch die Evidenzen zerstört und darin einen Teil dessen in Frage stellt, was ungeprüft hingenommen worden war“ (Bourdieu 1979, S. 331). Um den kollektiven Bruch einer Gesellschaft, einer Klasse oder einer Gruppe von Menschen mit der vorgängigen Doxa zu bewirken, sind wahrscheinlich politische oder ökonomische Krisen notwendig, die die Doxa in Frage stellen; hierfür können die Französische oder die Russische Revolution vielleicht als Beispiele gelten.

In der individuellen Lebensgeschichte kann die Veränderung der Doxa jedoch auch aus kulturellen Kontakten hervorgehen, aus Erfahrungen also mit anderen Systemen von Selbstverständlichkeiten, mit anderen Denk‑, Urteils‑, Wahrnehmungs‑ und Handlungsmustern. Ist die Schule der erste (und gleichzeitig systematischste) Ort, in dem solche Erfahrungen gemacht werden können (und zwar insbesondere für jene Kinder, die zwar in ihrer Herkunftskultur auf den Modus der praktischen Beherrschung getroffen sind, die aber, aus welchen Gründen auch immer ‑ Förderung durch den Kindergarten, Medienerfahrung etc.-, dennoch eine Neigung zum Modus der symbolischen Beherrschung entwickeln konnten; zum Beispiel die „intelligenten“ Arbeiter‑ oder Bauernkinder) so ist sie doch nicht der einzige: Kulturelle Kontakte bieten z.B. auch die Medien (wenn auch in restringierter Form) oder, gerade auf dem Land und in den Kleinstädten, die Vereine, die dort relativ breit die verschiedenen sozialen Gruppen und Klassen integrieren; dann, für die Männer jedenfalls, die Armee, und schließlich die politischen Organisationen (Verbände, Gewerkschaften, Parteien), die zwar eine relative Homogenität der Interessen voraussetzen ‑ bei aller Veränderung der Interessen der Mitgliedschaft, die durch die Wahlmodi und die Verfahren der Delegation zustande kommen (vgl. Bourdieu 1986) ‑, aber doch durch eine nicht unerhebliche Heterogenität der Mitgliedschaft gekennzeichnet sind. Dies alles sind Orte, in denen Widersprüche zwischen ursprünglicher Doxa und praktischen Erfahrungen in neuen Feldern aufbrechen können, mit der Folge der Zerstörung von Evidenzen.

Gewiss haben solche kulturellen Kontakte nicht automatisch die Folge einer Veränderung der eigenen Haltungen; aber sie bieten doch die objektive Möglichkeit dazu, den Kreislauf zu durchbrechen und nichtredundante Habitusformen zu erwerben. Dies freilich umso mehr, umso mehr sich auch die alltägliche Praxis des Erwachsenen von der alltäglich erfahrenen Praxis des Kindes und Jugendlichen, das er war, entfernt.

Zwar gibt es einen engen statistischen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunftsklasse und den typischen beruflichen Laufbahnen: „Einem bestimmten Umfang ererbten Kapitals (in seinen drei bzw. vier Varianten ‑ E.L.) entspricht ein Bündel ungefähr gleich wahrscheinlicher, zu ungefähr gleichwertigen Positionen führender Lebensläufe ‑ das einem bestimmten Individuum objektiv gegebene Möglichkeitsfeld“ (Bourdieu 1982, S. 188). Aber dieser Zusammenhang ist nicht für den Einzelfall zwingend; abweichende Laufbahnen kommen durchaus vor. Und Laufbahneffekte können sich auch in tiefgreifenden Veränderungen der Haltungen äußern: „Wer sich als junges Mädchen aus einfachen Verhältnissen dank ‚natürlicher’ Schönheit in die Obhut etwa von Ausbildungsschulen für Hostessen begibt, kommt als ‚anderer’ Mensch heraus; die Art zu gehen, sich zu setzen, zu lachen und zu lächeln, zu sprechen, sich zu kleiden und zu schminken und vieles mehr ist danach von Grund auf umgemodelt“ (a.a.O., S. 329). Aber es sind, schon per definitionem, Minderheiten, die solche Veränderungen des Ursprungshabitus erfahren.

5. Lernen mit Stil

Lernen mit Stil heißt vor diesem Hintergrund also erst einmal nichts anderes, als dass Lernen immer im sozialkulturellen Kontext betrachtet werden muss und dass es immer auf den Zusammenhang zwischen Habitus und Feld, Performanz und Kontext ankommt. Die Aufführungspraxen im Welttheater unterscheiden sich, gerade weil sie aufeinander bezogen sind. Der Raum der Lebensstile korrespondiert, alles in allem, nach wie vor mit dem Raum der Positionen: auch und gerade unter Bedingungen von Pluralisierung, Individualisierung, Migration und Transkulturalität. Trotz allen Wahlzwangs und aller Flexibilisierung herrscht in dieser Hinsicht alles andere als Beliebigkeit.

Wenn man von Bourdieu gelernt hat, die fraglose Hochschätzung bildungsbürgerlicher kultureller Werte und Gehalte, sei es in Kunst, Musik, Literatur, sei es im alltäglichen Lebensstil des Wohnens, Kleidens, Essens usw. als subtile Formen gesellschaftlicher Herrschaft und Privilegiensicherung zu entschlüsseln, so hat das keineswegs automatisch zur Folge, dass diese Werte und Gehalte nunmehr abzulehnen wären. Freilich bedürfen sie nun der Prüfung; sie können nicht mehr ohne weiteres fraglos gelten. Bourdieu führt zur Befragung. Nun muss man bewusst entscheiden, was lohnt, verallgemeinert zu werden, was ungefährlich ist und als persönliche Vorliebe weiterhin gepflogen werden kann, und was schließlich unterlassen werden soll, weil es inhaltlich nicht verallgemeinerungsfähig ist.

Solche Befragung kann einstweilen in vielen Bereichen nur innerhalb der kulturellen Eliten selber ihren Platz finden, weil sie ja voraussetzt, dass man kennt, was man befragt. Solange die Bevölkerungsmehrheit von umfassender kultureller Teilhabe ausgeschlossen wird, müssen kulturelle Eliten gleichsam stellvertretend ihre Interessen und Belange insoweit mitvertreten, als die Mehrheit sie ‑ noch ‑ nicht selbst vertreten kann: das alte Thema der Verantwortung des Intellektuellen, der Wissenschaft, der Kunst, der Pädagogik und der Kirche. Es gehört zur Dialektik der bürgerlichen Kultur, dass sie, wenigstens zum Teil, an Aufklärung und damit an der Verfremdung des scheinbar Selbstverständlichen orientiert ist und interessiert sein muss. Wenn also die Teilhabe am kulturellen Reichtum auf der inhaltlichen Ebene nur um den Preis der Aufklärung zu haben ist, so ist die Selbstaufklärung der Bildungsbürger der notwendige erste Schritt auf dem Weg zu einer Universalisierung der Kultur. Von Bourdieu kann man lernen, dass Individualität und Kollektivität nicht gegeneinander stehen, sondern wechselseitige Bedingungen bilden; und man kann lernen, dass Mündigkeit ohne Solidarität nicht zu haben ist. Das wusste man zwar auch schon vorher; aber nun kann man vielleicht doch etwas genauer einschätzen, wo die Schwierigkeiten auf diesem Entwicklungspfad liegen.


Literatur:

Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1979

Ders.: Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques. Paris 1982

Ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982

Ders.: Delegation und politischer Fetischismus. In: Ästhetik und Kommunikation 16 (1986), S. 184 – 195

Ders./Schwibs, Bernd: „Vernunft ist eine historische Errungenschaft, wie die Sozialversicherung“. Bernd Schwibs im Gespräch mit Pierre Bourdieu. In: Neue Sammlung 25 (1985), S. 376 – 394

Jugendwerk der Deutschen Shell: Jugend`81. Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder. (3 Bde.) Hamburg 1981

Liebau, Eckart: Gesellschaftliches Subjekt und Erziehung. Zur pädagogischen Bedeutung der Sozialisationstheorien von Pierre Bourdieu und Ulrich Oevermann. Weinheim/München 1987

Ders.: Erfahrung und Verantwortung. Werteerziehung als Pädagogik der Teilhabe. Weinheim/München 1999

Ders.: Braucht die Pädagogik ein Menschenbild? In: Bizer, Christoph u.a. (Hg.): Jahrbuch der Religionspädagogik 20 (2004), S. 136 – 144

Pfeffer, Gottfried: Das fehlende Positive. Sozialdeterministische Aspekte bei Bourdieu und ihr möglicher „Aufklärungswert“. In: Neue Sammlung 25 (1985), S. 279 – 297

[1] Der folgende Text beruht i.w. auf Liebau 1987, S. 89 – 101